Systemisches Denken – Seine Zeit ist jetzt
Ruth Seliger I 1. März 2018
Systemisch ist heute ja jeder. Systemisch ist irgendwie „in“ geworden, viele Begriffe aus dem systemischen Feld sind in unserer Alltagssprache angekommen: Wir sprechen von Konstruktionen, von systemischen Zusammenhängen. Genaues Hinhören ernüchtert allerdings: Es gibt einen Unterschied zwischen systemisch sprechen und systemisch denken.
Warum aber sollte man sich überhaupt mit systemischem Denken beschäftigen, ja noch schlimmer: Warum sollte man selber systemisch denken lernen – und nicht nur systemisch sprechen?
„Es ist dieser Unterschied zwischen kompliziert und komplex, der für das Denken des 21. Jahrhunderts kennzeichnend ist.“ Natalie Knapp1

Eine neue Landschaft braucht eine neue Landkarte
Vor vielen Jahren machte ich mit meiner damals pubertierenden Nichte und ihrer Freundin den Versuch, beiden die Schönheit der Toscana zu zeigen. Unsere erste Station war Siena. Ich zeigte ihnen den Campo, den Dom, erzählte vom Palio. Wirklich spannend fanden die beiden Mädchen Siena allerdings erst, als sie „Intimissimi“ entdeckten. Man sieht eben nur, was man gelernt hat zu sehen. Wenn man etwas Neues sehen will, braucht man dafür neue „Brillen“ oder eine neue „Landkarte“.
Unsere Welt ist nicht mehr dieselbe, wie damals, als Sie und ich (sofern Sie älter als 30 Jahre sind) sie kennengelernt hatten. Wir alle gingen in eine Schule, in der wir lernten, dass es „Wahrheiten“ gibt, die wir erlernen mussten, und Lehrer, die die Fähigkeit hatten, zwischen „richtig“ und „falsch“ zu unterscheiden. Wir lernten (implizit) auch, dass die Welt erkennbar ist, dass Verstehen dadurch entsteht, dass wir das Wissen in kleine Teile (=Unterrichtseinheiten) zerteilen und dass dieses Wissen vom Mund des Lehrers in unseren Kopf übertragbar sei.
Mittlerweile hat sich die Welt allerdings dramatisch verändert: Wir sind global, wir sind vernetzt, wir kommunizieren in Echtzeit rund um den Erdball, wir sind nicht nur schneller geworden, wir haben ein vollkommen verändertes Verhältnis von Zeit und Raum – einst unsere Orientierungspunkte in der Welt.
Wir haben – getrieben von technologischen Entwicklungen – eine Welt geschaffen, die wir selber nicht verstehen können, weil sich unser Denken nicht in derselben Geschwindigkeit mitverändert hat. Um uns in dieser neuen Welt – auch VUCA-Welt genannt: volatile, unpredictable, complexe, ambiguous – zurechtzufinden, brauchen wir neue Brillen oder Landkarten, oder, wie Natalie Knapp es formuliert: einen neuen Kompass für eine neue und unbekannte Welt. Wir schauen aber immer noch durch unsere erlernten Brillen auf die neue Welt.
Die Stärke und Qualität systemischen Denkens liegt in der Fähigkeit, mit Komplexität umzugehen. In einer komplexer werdenden Welt brauchen wir eine passende Theorie. Unser Problem mit der Komplexität liegt ja nicht darin, dass die Welt komplex ist. Die Welt war immer schon ein komplexes System, in dem alles mit allem irgendwie verbunden ist und alles auf alles irgendwie Einfluss nimmt. Unser Problem mit Komplexität liegt in unserer Annahme, dass wir uns die Welt vereinfachen könnten. Wir suchen seit Menschengedenken nach einfachen Antworten auf komplexe Fragen.
Die Kernkompetenz systemischen Denkens ist das Bearbeiten von Komplexität. Deshalb ist jetzt seine Zeit gekommen.
Was ist „Systemisches Denken“?
Mit dieser Frage kann man jeden Systemiker schnell in Verlegenheit bringen. Denn die Theorie von Komplexität ist selbst komplex und daher schwer zu erklären. Ich werde dennoch einen Versuch wagen.
Systemisches Denken ist eine Denkform, eine Theorie, die aus der Zusammenarbeit von VertreterInnen unterschiedlicher Wissenschaftsbereiche entstanden ist: der Physik und Quantenphysik, der Ethnologie, Biologie, Psychologie, Soziologie und auch der Hirnforschung. Diese Kooperation oder besser: Ko-Evolution brachte es von Anfang an mit sich, dass die Antworten auf die Frage „Wie funktioniert unsere Welt?“ immer schon auf Komplexität ausgerichtet waren. Heute ist die Theorieentwicklung zwar nicht abgeschlossen, aber abgerundet. Die Theorie hat eine gewisse Konsistenz erlangt.
Drei große Themen kennzeichnen das Feld „Systemisches Denken“:

Kybernetik2
war der Ausgangspunkt systemischen Denkens. Kybernetik beschäftigt sich mit der Frage nach der Beziehung und den Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Phänomenen oder Elementen eines Systems. Unser angelerntes technisches Verständnis lässt uns stark auf die linearen Zusammenhänge blicken: Was ist Ursache, was ist Wirkung? In einer Welt der vielfachen und nicht eindeutig erkennbaren Ursachen und Wirkungen genügt dieses technische Bild nicht mehr. Die Kybernetik beschäftigt sich mit den Wechselwirkungen zwischen den Elementen, wenn es keine eindeutige „Ursache“ und „Wirkung“ gibt. Die Kybernetik hat die Idee der zirkulären Prozesse entwickelt, in denen es keine eindeutige Steuerung gibt, die Dinge sich eher gemeinsam entwickeln. Dieses zirkuläre Denken richtet unsere Aufmerksamkeit weg von der Erforschung von Ursachen (und damit oft Schuldigen) hin zu Mustern des Zusammenspiels. Es ist dieses Zusammenspiel, das uns interessiert.

Lebende Systeme – von der Mikrobe bis hin zu großen Organisationen und Gesellschaften – sind mit der Idee der Zirkularität, der Wechselwirkungen, besser zu erklären als mit der Idee, dass Lebensprozesse linear gesteuert werden. Wenn wir unsere globalisierte und vernetzte Welt und vor allem die Bedrohungspotenziale besser verstehen wollen, dann gelingt das besser, wenn wir mit der Brille der Kybernetik, also der Wechselwirkungen in die Welt schauen.3
Das gilt auch für Organisationen: Sind die MitarbeiterInnen so unmotiviert, weil die Führungskraft so autoritär ist, oder ist die Führungskraft so autoritär, weil die MitarbeiterInnen so unmotiviert sind?
Die alten linearen Erklärungen der Welt waren zwar einfacher, aber der Realität der Welt nicht angemessen. Komplexe Systeme können damit nicht mehr beschrieben und erklärt und schon gar nicht gestaltet werden. Die Kybernetik zeigt uns einen Weg, mit Komplexität angemessen umzugehen. Wir sehen das Zusammenwirken und damit auch die Verantwortung, die alle Beteiligten am Zustandekommen einer Situation haben.
Konstruktivismus4
ist ein Gebiet der Erkenntnistheorie. Es geht dabei um die Frage: Haben wir direkten Zugang zur Realität, ist das, was wir wahrnehmen, ident mit der Realität oder ist es ein individuelles Konstrukt? Die Antwort des Konstruktivismus ist: Alle unsere Wahrnehmungen der Realität kommen nur zustande, weil wir die Eindrücke aus der Außenwelt in unserem Inneren verarbeiten und daraus jene Realität konstruieren, die wir für wahr nehmen.
Konstruktivismus ist eine Theorie der subjektiven Wirklichkeit. Im Zentrum des Konstruktivismus steht der Beobachter/die Beobachterin. Aus dieser Perspektive muss gefragt werden, wer beschreibt eine Situation wie?

Damit ist der Konstruktivismus eine klare Absage an Glaubenssätze wie „Wahrheit“ oder beobachterunabhängige „Objektivität“. Ein und dieselbe Welt sieht aus unterschiedlichen Perspektiven und mit unterschiedlichen Landkarten sehr unterschiedlich aus.5
Dieser Gedanke ist erleichternd, denn wir müssen nicht mehr im Namen der „Wahrheit“ streiten und Kriege führen. Der respektvolle Umgang mit der Subjektivität von Wahrnehmungen und der Verzicht auf Wahrheiten macht in einer komplexen Welt das Leben einfacher. Es geht darum, zu verstehen, wer etwas sagt, vielleicht auch, warum. Aber mehr braucht es nicht. Wenn wir den Beobachter ins Zentrum der Theorie stellen, dann reduzieren wir damit Komplexität – und erweitern sie zugleich.
Systemtheorie6
Aus konstruktivistischer Sicht ist ein „System“ etwas, das durch einen Beobachter überhaupt erst geschaffen wird, indem wir alle, die wir die Welt beobachten, Unterscheidungen treffen zwischen Elementen, die wir gemeinsam als „System“ zusammenstellen und verbinden und von seiner Umwelt – dem „Nicht-System“ – unterscheiden. Es „gibt“ also keine Systeme.
Aus kybernetischer Sicht interessiert uns, wie die einzelnen Elemente des Systems und das System mit seiner Umwelt in Wechselbeziehungen stehen. Aus dieser Perspektive interessieren uns weniger die einzelnen Elemente des Systems, sondern die Muster der Interaktionen.

Systemisches Denken beschäftigt sich mit lebenden Systemen, also mit biologischen Systemen, mit Menschen und sozialen Systemen. Was lebende Systeme gemeinsam haben, ist ihre Komplexität, ihre zirkulären Lebensprozesse und ihre Fähigkeit, sich selbst am Leben zu halten.
Die Systemtheorie stellt das Thema „Kommunikation“ ins Zentrum: Alle sozialen Systeme – vom Paar über die Gruppe, die Familie, Organisationen bis hin zur Gesellschaft – werden durch Kommunikation gebildet und durch Kommunikation aufrecht erhalten. Soziale Systeme „bestehen“ aus Kommunikation. Entfällt diese, stirbt das System.
Organisationen sind vor diesem Hintergrund „organisierte Kommunikation“ – also gestaltete, strukturierte Kommunikation, die auch besondere Formen, wie etwa „Entscheidungen“ umfasst. Kommunikation dreht sich um die Aufgabe, die Arbeit und die Produkte der Organisation. Veränderung bedeutet aus dieser Sicht daher: Veränderung der Kommunikation.
Wozu „Systemisches Denken“?
Systemisches Denken hat seit vielen Jahren Einzug in unterschiedliche Professionalitätsfelder gehalten: allen voran die systemische Familientherapie, die systemische Organisationsberatung, sogar in die Pädagogik, zaghaft auch in Unternehmen, hier vor allem die Personalentwicklung.
In den Köpfen von Managern ist systemisches Denken noch nicht angekommen. Es wird weiterhin versucht, die globalisierte, digitalisierte und automatisierte Welt mit den alten Denkmustern der Frühzeit der Industrialisierung zu verstehen, zu verändern und zu gestalten. „Industrie 4.0 trifft auf Führung 1.0“7: lineare, einfache Erklärungen, Schuldfragen, hierarchisches Denken:
„Die Leute sollen einfach ihren Job machen, dann funktioniert der Laden“ oder „Die Change-Themen sollen einmal bei den Leuten auf die Straße gebracht werden, das Management muss sich damit nicht beschäftigen“ oder „wir tauschen jetzt den Produktionsleiter aus, dann wird das Problem gelöst sein“ oder ... .8
Angesichts dramatischer Veränderungen – getrieben durch technologische Entwicklungen, neue globale Veränderungen, neue Kommunikationsmedien usw. – erscheint es dringend notwendig, dass Führung und ihre RepräsentantInnen sich mit ihren eigenen Annahmen und Bildern beschäftigen.
Relevant für Führung sind dabei besonders drei Themen: Organisation, Führung und Veränderung.
Organisationen: Sie werden weiterhin überwiegend entweder aus einer technischen (es soll einfach funktionieren) oder aus einer betriebswirtschaftlichen (Kosten-Nutzen-Kalkulation) Perspektive gesehen. Führung wird weiterhin als Aufgabe der linearen Steuerung definiert: Ich entscheide, die anderen führen aus. Veränderung wird als Prozess des „Umbaus“ gesehen, der angeordnet und dann umgesetzt werden kann.
Diese Denkmodelle genügen, wenn man kleine Probleme hat, die mit einfachen Denkmodellen zu lösen sind. Die schnelle, komplexe und vor allem unsichere VUCA-Welt stellt allerdings andere Anforderungen an Führung (und auch an Beratung).
Wer heute Organisationen führt oder beratend unterstützt, braucht Denkmodelle, die der Komplexität nicht nur angemessen sind, sondern die auch Methoden und Wege zur Verfügung stellen, um Antworten auf die komplexen Fragen von Organisationen in einer dynamischen Welt zu generieren. Diese Antworten liegen nicht mehr in den Schubladen (oder Rechnern) von ExpertInnen.
Der Erfolg von Organisationen hängt von vielen Dingen ab: der Innovationskraft, der Lernfähigkeit, der Kultur der Organisation. Das zu ermöglichen hängt von der Fähigkeit der Führung ab, systemisch zu denken. Angewandtes systemisches Denken richtet sich auf diese Themen:

Systemisches Denken zu erlernen ist nicht einfach. Es gilt, viele alte Annahmen zu verwerfen, alte Denkformen zu „ent-lernen“ und die Welt durch andere Augen zu sehen. Viele Implikationen sind mit systemischem Denken verbunden: die Übernahme von Verantwortung für die eigenen Landkarten und die Wirkungen des eigenen Verhaltens. Schluss mit der Opferrolle.
Wozu all diese Anstrengung auf sich nehmen?
In einer VUCA-Welt herrscht vor allem eines: Ungewissheit. Wie also umgehen mit solch einer Welt? Das Versprechen systemischen Denkens lautet: Die Welt war immer so, das Problem war bisher aber, dass wir versuchten, uns die Welt einfach und überschaubar zu denken, anstatt mit ihrer Komplexität angemessen umzugehen. Systemisches Denken ist ein Theoriefeld, das sich der Erforschung lebender Systeme widmet. Die Konzepte und Modelle sind dem Gegenstand – in unserem Fall: Organisationen, Führung und Veränderung – angemessener und damit gelingt es leichter und schneller, die Dynamik der Welt und die Dynamik im Inneren von Organisationen zu bearbeiten. Komplex bleibt es aber.
1 Natalie Knapp: Kompass neues Denken. Reinbeck bei Hamburg 2015 (4. Auflage). S. 21 2 Verbunden mit den Namen von Norbert Wiener und Heinz von Foerster 3 Ausgezeichnet dargestellt in: U. Brand/M. Wissen: Imperiale Lebensweise. München 2017 4 Verbunden mit den Namen von H. Maturana und F. Varela oder P. Watzlawick 5 Dazu sehr eindrucksvoll: Alastair Bonnett: Atlas unserer Zeit. 50 Karten eines sich rasant verändernden Planeten. Köln 2017 6 Verbunden mit dem Namen von Niklas Luhmann 7 Roman Stöger: Umsetzung der Digitalisierung. In: ZOE 2017, Heft 1, S. 55 8 Originalzitate aus der Praxis der Beratung