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Dem Alltäglichen auf der Spur

Interview mit Stephanie Krawinkler I 13. Februar 2020


Dr. Stephanie Krawinkler ist Betriebs- und Organisationsanthropologin aus Wien. Sie hat diese Disziplin viele Jahre in Österreich faktisch alleine vertreten und maßgeblich mitgestaltet. Neben ihrer Forschungs- und Lehrtätigkeit arbeitet sie in und mit Organisationen an komplexen Fragen der Organisationsentwicklung. Aktuell beschäftigt Sie sich im Rahmen unserer Arbeit zu gesellschaftlichem Wandel gemeinsam mit trainconsulting mit Fragen der Wechselwirkungen zwischen Gesellschaft und Organisationen im kulturellen Kontext.


Frage: Stephanie, Du bist Betriebs- und Organisationsanthropologin … Was macht eine Betriebs- und Organisationsanthropologin eigentlich? Die Organisationsanthropologie kennt man bei uns nur wenig. In den USA hat sie eine lange Tradition. Schon bei den ersten großen Studien zu Organisationen, etwa den Hawthorn-Studien, waren Anthropologen beteiligt. Ich bin jetzt seit rund 15 Jahren in diesem Feld. Typisch für meine Arbeit ist, dass ich mich immer mit dem beschäftige, was tatsächlich da ist. Dem Alltag. Durch Methoden wie der teilnehmenden Beobachtung und der Organisationsethnographie komme ich dem Alltäglichen auf die Spur – hier liegt ein klarer Fokus auf dem Verstehen. Ich räume der Bewusstmachung der Organisationskultur, der Besprechbarkeit und damit dann auch der Möglichkeit zur gemeinsamen Veränderung Platz ein.

Frage: Kannst du uns ein Beispiel nennen, was du in Organisationen machst?

Es hängt natürlich von der Themenstellung und den Ressourcen ab: bevorzugt nehme ich beobachtend teil. Ich habe z. B. in einem Forschungsprojekt ein Elektrodienstleistungsunternehmen zu Zeiten der Rezession untersucht: Wie wird Vertrauen verstanden, aufgebaut und wiederhergestellt und wofür wird es benötigt? Da habe ich von der reinen Beobachtung z. B. bei Jahresversammlungen bis zur aktiven Teilnahme, etwa bei Hilfstätigkeiten z. B. beim Verteilerkastenbau und -installation), das Unternehmen aus der Perspektive aller Unternehmenshierarchien kennengelernt. Ich beobachte und reflektiere mit den AkteurInnen und bringe anthropologische Theorien und Methoden in die Diskussion und Analyse mit ein. Die Analyse hat dem Unternehmen u.a. Erkenntnisse in die unternehmensinternen non-formellen Kommunikations- und Problemlösungswege gebracht, einen jahrelangen Konflikt gelöst und wichtige Insights für den Rekrutierungsprozess für weibliche Lehrlinge im technischen Beruf gebracht. Da ich mich für die Themen interessiere, die die AkteurInnen tatsächlich beschäftigen, kommt es auch zu Überraschungen und zu unerwarteten Lösungen, das ist einer der vielen Vorteile meiner Arbeitsweise.


Frage: Du arbeitest zum Thema Kultur, sagst aber selbst, dass du diesen Begriff kaum verwendest. Warum eigentlich?

Das Wort Kultur ist für die meisten Menschen ein sehr abstrakter Begriff. In meinen Erhebungen und Workshops kommt das Wort wenig vor und falls doch nur nach einer grundlegenden Begriffsklärung. Viele der im Alltag verwendeten Kulturkonzepte sind außerdem sehr eurozentrisch. Mir geht es um tatsächliche Alltagserlebnisse und um Themen wie die Werte, die das Verhalten der Menschen beeinflussen, die Tabus und die HeldInnen eines Unternehmens, die Macht und informelle Strukturen.

In der Analyse kommt der Begriff „Kultur“ dann durchaus auch vor. Kultur beinhaltet unglaublich viele Themengebiete und bei kürzeren Fragestellungen/Forschungen werden auch nur Teilaspekte davon untersucht. Da ist es wichtig, diese auch konkret zu benennen.

Ich arbeite mit einem dynamischen Kulturbegriff. In Anlehnung an Smircich verstehe ich Kultur als Wurzelmetapher – sprich als das, was dieses Unternehmen ist. Kultur ist also ein Produkt der sozialen Interaktion und das beinhaltet alles was diese Organisation ausmacht. Kultur ist keine unabhängige Variable und es darf Widersprüche geben/Multi-Realitäten. Kultur produziert durchaus Konflikte, die wiederum Potential für Innovation und Entwicklung sind. Wir sprechen hier also von den Prozessen, durch welche die Organisationsmitglieder ihre Erlebnisse interpretieren, wie sie diese Interpretationen zum Ausdruck bringen und wie sich das in ihren Handlungen zeigt.


Frage: Welche Frage sollten sich Führungskräfte stellen, wenn sie über Organisationskultur nachdenken?

Es geht bei dem Thema Organisationskultur nicht darum was im Mission Statement steht, sondern was und wie im Betrieb gelebt wird. Das heißt, zuerst geht es um eine Ist-Bestandsaufnahme. Wenn man dann erkennt, dass man gewisse Dinge anders haben will, dann geht es in meiner Arbeit nicht um die Vorschreibung von oben nach unten, sondern um das Miteinander – den Dialog, die Reflexion, die Interaktion, die die gemeinsame Realität erschafft.

Die Frage, die ich immer wieder mit CEOs und Führungskräften thematisiere, ist, wie weit sie eigentlich wissen, was in ihrem Unternehmen los ist. Ein Klassiker, der aber in vielen Unternehmen meines Wissens nach nicht oder nur wenig gelebt wird: Oft ist schon ein Gang durch das gesamte Unternehmen und dadurch der Kontakt mit MitarbeiterInnen auf allen Organisationsebenen augenöffnend.


Frage: In deinem Buch „Trust is a choice“ hast du dich intensiv mit der Frage von Vertrauen beschäftigt. Warum ist dieses Thema, gerade heute, in Organisationen so wichtig?

Vertrauen ist in allen Lebenssituationen wichtig – auch in Unternehmen. Wir leben in einer komplexen Welt und niemand kann seine MitarbeiterInnen, KonkurrentInnen oder KooperationspartnerInnen hunderprozentig kontrollieren, zudem verfügt kaum jemand über das Know-how um dies zu bewerkstelligen. Vertrauen ist das Antidot zur Kontrolle. Ich erforsche seit 2008 das Thema Vertrauen – in der Wirtschaftskrise wurde ja auch immer wieder von der Vertrauenskrise gesprochen. In den letzten Jahren hat sich mein Forschungsschwerpunkt auf den Paradigmenwechsel im Management verlegt: Agiles Management, Soziokratie, Holakratie, alternative Organisationsmodelle. Diese zeichnen sich alle durch Sinnhaftigkeit und ein hohes Maß an gelebtem Vertrauen aus.


Frage: Was hast du dabei herausgefunden? Kannst du die für dich wichtigsten ein, zwei Erkenntnisse mit uns teilen?


Vertrauen ist ein komplexes Phänomen, das in jeder Kultur angetroffen wird. Doch die Vertrauenskonzepte unterscheiden sich: z.B. darin wer wem wann wofür Vertrauen schenkt. Meine Studie hat gezeigt, dass in dem beforschten Unternehmen Vertrauen als notwendig erachtet wurde um gemeinsam gut zusammenzuarbeiten und damit auch das Unternehmen erfolgreich zu halten. Dieser Zusammenhang zwischen Vertrauen und Erfolg, der durch zahlreiche Gespräche v.a. mit Führungskräften in den letzten Jahren bestärkt wurde, deckt sich auch mit der Literatur. Es hat sich gezeigt, dass es in diesem Betrieb gelungen ist Vertrauen wieder aufzubauen, nachdem es zerbrochen war und ich konnte klar aufzeigen, wofür das Vertrauen in diesem Unternehmen gebraucht wird.

Insofern ist eine Aufmerksamkeit in Bezug auf Vertrauen in einem Unternehmen den Führungskräften wichtig. Hier geht es in erster Linie allerdings nicht darum, das Vertrauen zu messen, sondern zu verstehen, was das Vertrauen ausmacht. Was darunter verstanden wird, wie es entsteht, wofür es gebraucht, wie es gestört wird etc. Man hat ja Einfluss darauf, wie weit man selber vertrauen möchte und wieviel man in die eigene Vertrauenswürdigkeit investieren möchte. Dafür muss man herausfinden, was die Vertrauenswürdigkeit in der besagten Gesellschaft/Organisation fördert. Vertrauen ist eine Wahl.


Frage: Wir leben in Zeiten großer und schneller Veränderungen. Sowohl in der Gesellschaft, als auch in Organisationen. Was sind deiner Meinung nach gerade gesellschaftliche Entwicklungen, die Organisationen im Blick haben sollten?

Digitalisierung, künstliche Intelligenz, Nachhaltigkeit, neue Organisationsformen, die „me-too“ Bewegung sind nur einige der Themen, die ich in letzter Zeit vermehrt im Blickpunkt habe. All diese haben sowohl gesellschaftspolitische als auch organisationsbezogene Relevanz. Die Anthropologie beschäftigt sich seit jeher mit der Untersuchung der Makro- und der Mikroebene und die Schnittstellen von Organisationen und Gesellschaft sind da keine Ausnahme. Ich finde, man kann hier durchaus größer denken, z.B. welche Form von Schulausbildung braucht es in naher Zukunft um Menschen auf die nachhaltige Nutzung der Ressourcen, als Digital Natives mit hoher Sozialkompetenz auf die neuen zu erwartenden Interaktionen zwischen Menschen und Maschinen einzustellen. Und das ist wahrlich nur eine der gesellschaftlichen Fragen, die natürlich auch Unternehmen betreffen. Die zunehmende Mitbestimmung und öffentliche Interaktion von KonsumentInnen mit Unternehmen hat die Repräsentationsthematik in den letzten Jahren stark verändert. Wichtig ist, dass Organisationen sich ihrer prägenden und gestaltenden Rolle bewusst sind und auch dementsprechend agieren.


Frage: Organisationen sind ja auch selbst gesellschaftliche Akteure. Wo siehst du Organisationen derzeit besonders großen Einfluss auf gesellschaftliche Entwicklungen nehmen?


Es gibt Unternehmer wie Ricardo Semler, und viele der Unternehmen, die Frederic Laloux in seinem Buch Reinventing Organisations beschreibt, die mit ihren Unternehmen und Projekten bewusst die Gesellschaft verändern. Wie z. B. Buurtzorg. Dieser niederländische Pflegeservice hat sein Modell der qualitätsvollen persönlichen selbstverwalteten und kosteneffizienteren Kranken und Altenbetreuung mittlerweile internationalisiert – indem das Konzept mit anderen in diesem Feld geteilt wird. Sharing als Verhalten wird zunehmend auch von Unternehmen vorgelebt – z. B. Premiumkola in Deutschland, die aus Nachhaltigkeitsgründen nicht weiter als einen Radius von 600 km beliefern und ihr Organisationskonzept mit anderen Getränkeproduzenten teilen, damit es von anderen auch gelebt werden kann. Meine Erfahrung mit jungen Studierenden zeigt, dass das Know-why immer wichtiger wird als das Know-how und das bringt einen Paradigmenwechsel in der Arbeitsplatzgestaltung, die wiederum verknüpft ist mit Fragen der Vereinbarkeit von Familie und Arbeit, Umgang mit älteren ArbeitnehmerInnen, etc. und schon sind wir mitten drinnen in der Komplexität der Überschneidungen, wo Unternehmen gesellschaftspolitisch aktiv sein können und wo die wandelnde Gesellschaft Einfluss auf den Unternehmensalltag hat.


Frage: Wie bewertest du das? Welche dieser Einflüsse siehst du kritisch? Welche wichtig?


Ich persönlich finde selbstorganisierte, sinngeprägte Arbeitsgestaltung, die aufgrund von Selbstverantwortung, Transparenz und klarer Kommunikation funktioniert, sehr interessant. Gleichzeitig glaube ich aber auch nicht, dass dies die einzig richtige Form des Arbeitens ist, die für alle Branchen und Menschen gleich geeignet ist. Zudem darf auch nicht vergessen werden, dass aufgrund der digitalen Möglichkeiten Überwachungen in Unternehmen und den Gesellschaften ausgebaut werden und das nicht alles, was gut für ein Unternehmen ist, auch gut für die Menschen im Unternehmen ist.

Die kultur- und sozialanthropologische Brille erlaubt es, den Bogen von dem konkreten Einzelfall (z.B. Quotenfrauen/männer/Kinderbetreuung/Altenpflege) hin zum gesellschaftlichen Thema (Beziehungsformen, Kinderbetreuungsmodelle, Nachwuchs/Invitro, Leihmutterschaft, Adoption, Patchworksysteme) zu spannen und damit auch die Interdependenz zwischen Organisationen und dem gesellschaftlichen Wandel aufzuzeigen.


Frage: Hast du eine Empfehlung für EntscheidungsträgerInnen und BeraterInnen, wie man dieses Thema zum Nutzen von Organisation und Gesellschaft behandeln kann?


Ich glaube in diesen Zeiten der zunehmenden Komplexität und der – wenn man es sich eingesteht – zunehmenden Ungewissheit ist es wichtig, dass sich Organisationen einerseits intern bewusst Gedanken darüber machen, wofür sie stehen und welche (gesellschafts)politischen Entscheidungen sie treffen. In weiterer Folge finde ich Transparenz und klare Kommunikation wichtig. Damit erreichen Unternehmen u.a., dass sich MitarbeiterInnen stärker mit der Organisation identifizieren. Des weiteren können die Betriebe/Organisationen diese Positionierung auch gezielt nach außen kommunizieren. Wir leben in einem Post-Informationszeitalter. D.h. sowohl die KonsumentInnen als auch die MitarbeiterInnen denken zumindest teilweise kritisch und hinterfragend, aufgrund der Digitalisierung und Internationalisierung haben die Menschen auch einen besseren Zugang zu Informationen und auch eine Möglichkeit die eigenen Erkenntnisse mit der Welt zu teilen.

Danke für das Gespräch!
Dr. Stephanie Krawinkler wird am 19. März 2020 auch als Expertin bei unserem Systemicum in der Brotfabrik dabei sein.


Buchtipp: Krawinkler, S.: Trust is a Choice - Prolegomena of Anthropology of Trust(s). 2013, Carl-Auer. ISBN 978-3-89670-972-1

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